Lob der Schulden

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von Björn Schöpe

30. Oktober 2014 – Niemand hat gerne Schulden. Und dennoch lässt sich Schulden erstaunlich viel abgewinnen. Die französische Philosophin Nathalie Sarthou-Lajus hat das 2012 geschafft in einem Essayband, der 2013 im Berliner Verlag Klaus Wagenbach in Übersetzung erschienen ist. Das schmale Bändchen „Lob der Schulden“ im markanten roten Leineneinband ist allerdings keine leichte Lektüre. Die Autorin zieht viele Beispiele aus Literatur und Forschung heran, um ihre These zu begründen: Schulden sind notwendig und ein zentraler Kitt unserer Gesellschaft.

Nathalie Sarthou-Lajus, Lob der Schulden. Berlin, Verlag Klaus Wagenbach, 2013. 20,9 x 11,7 cm, 96 S. Hardcover. ISBN: 978-3-8031-1299-6. Preis: 13,90 Euro.

Schulden sind kein ausschließlich ökonomisches Konzept. Wir stehen in jemandes Schuld, wenn wir Hilfe erhalten haben. Nicht immer lässt sich Schuld einfach begleichen. Dafür verweist Sarthou-Lajus unter anderem auf die familiären Schulden: beispielsweise die Dankbarkeit des Kindes den Eltern gegenüber. Aus unserer heutigen Realität zitiert die Autorin die Organspende. Der Empfänger kann dem Spender nicht danken. Als Reaktion wird der Empfänger häufig aus Dankbarkeit selbst zum Spender.

Auch bei finanziellen Schulden ist das Verhältnis von Gläubiger und Schuldner nicht festgelegt sondern dynamisch. Wer heute Geld schuldet, mag es morgen zurückzahlen und jemand anderem selbst Geld leihen. Wer Schulden zugesteht und Geld leiht, drückt damit die Hoffnung aus, sein Geld eines Tages zurückzuerhalten. Und hier sieht die Autorin die Ursache unserer aktuellen Wirtschaftskrise: Es fehlt am Vertrauen in die Zukunft, die Wirtschaftskrise ist eine Vertrauenskrise.
In unserer Wirtschaft lässt sich die persönliche Verschuldung aber auch komplett löschen. In der Folge verlagern sich allerdings „unendliche Schulden“ auf die Finanzwirtschaft, in die Banken. Wir können ruhig schlafen, solange wir unsere eigenen Schulden überblicken, die Hypotheken, die Ratenzahlung für das neue Auto. Aber diese Formen des „Abstotterns“ sind nur möglich geworden, weil im Hintergrund Banken und Kreditinstitute sich untereinander durch ein kompliziertes Vertrauensnetz Geld leihen und Schulden anerkennen.

In früheren Zeiten konnte Verschuldung zu einer Versklavung des Schuldners führen. Und das ist nicht im übertragenen Sinn gemeint. Jedoch erlaubte die Geldwirtschaft auch eine sofortige Entledigung von Schulden. Das klingt zunächst sehr erfreulich. Aber Sarthou-Lajus macht auf eine gefährliche Entwicklung im Kapitalismus aufmerksam: Die Stärkung des Einzelnen und die Förderung seiner Selbstbestimmung führten letztlich dazu, dass soziale Bindungen zerfielen. Was war geschehen? Der Einzelne war bestrebt, sich schnell aus jeder Abhängigkeit zu lösen. Abhängigkeit kann aber auch nützliche Bindungen meinen. Um es konkret zu machen: Wenn in antiken Gesellschaften, in den sogenannten „primitiven Ökonomien“, aber auch noch in der europäischen Neuzeit Gaben ausgetauscht wurden, so verpflichtete der Gebende den Empfänger zu einer Gegengabe. Der Empfänger stand in der Schuld. Diese Schuld war nicht unbedingt drückend, und es gab keinen Grund, sie sofort zu begleichen. Vielmehr funktionierte das Netz an Bindungen und Freundschaftsbeziehungen der Aristokraten gerade dadurch, dass sich nicht jeder sofort entschuldete.

Die Autorin möchte uns diese verlorene Gedankenwelt wieder näherbringen. In einem lebendigen Bild (allerdings ohne Abbildungen!) führt sie dem Leser vor Augen, was Schulden zu einer Gesellschaft beitragen: Dank unserer Verpflichtungen leben wir nicht nur aneinander vorbei, sondern bilden stabile Sozialbeziehungen. Schuldverhältnisse werden auch gelöst und mit ihnen die sozialen Beziehungen. Dadurch sind wir offen für neue Beziehungen. Unser Leben bleibt dynamisch, wir verändern uns.
Sarthou-Lajus breitet nicht nur theoretische Literatur aus Philosophie und Soziologie vor dem Leser aus, sondern zieht auch das biblische Gleichnis von den anvertrauten Talenten heran, Shakespeares „Kaufmann von Venedig“ und den Mythos des Don Juan. Wer wissen will, wie das alles zusammenpasst, muss sich diesen Essayband selbst erarbeiten. Faszinierend ist der Blick der Autorin auf unser ganzes Leben durch den Filter des Schuldkonzepts. Plötzlich gewinnt man dem Verschuldetsein tatsächlich eine Menge Positives ab.