„Langzeit und Endlager“: Eine Ausstellung regt zum Nachdenken an

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9. Januar 2014 – Täglich nutzt unsere Gesellschaft Elektrizität aus Kernkraftwerken. Und wir alle produzieren nukleare Abfälle, deren Entsorgung seit Jahrzehnten für Debatten sorgt. Nebst der Lösung der Standortfrage gilt es, Sicherheitskonzepte für abertausende zukünftiger Generationen zu entwickeln. Wie sind wir in diese Abhängigkeit geraten und welche Erfahrung haben wir im Umgang mit Langzeitperspektiven bisher sammeln können? – In einer deskriptiven Gesamtschau geht die interdisziplinär angelegte Ausstellung im Museum zu Allerheiligen Schaffhausen diesen und weiteren Fragen nach.

Kernkraftwerk Gösgen im Herbst 2013.

Die Sicherheit eines Lagers für schwach- und mittelaktive Abfälle muss gemäß heutiger Planung für 100.000 Jahre gewährleistet werden, für hochaktive über einen Zeitraum von 1 Million Jahre – das sind Dimensionen, die menschliche Maßstäbe übersteigen. Das Museum zu Allerheiligen setzt sich in der Ausstellung „Langzeit und Endlager“, die noch bis 23. März 2014 geht, aus verschiedenen Blickwinkeln mit dem Thema auseinander und versucht, die Zeiträume, in denen sich die Entsorgungsplanung bewegt, erlebbar zu machen.
Erstmals wird dabei dem Planungshorizont zur Entsorgung radioaktiver Abfälle ein historischer Erfahrungshorizont gegenüber gestellt. Auf 1.200 qm Ausstellungsfläche bietet die Ausstellung einen facettenreichen Überblick über unsere Erfahrungen mit großen Zeiträumen. Die Besucher erleben den fortwährenden Wandel in der fernen wie der jüngsten Vergangenheit aus wechselnden Perspektiven und Maßstäben und gewinnen eine Vorstellung vom Ausmaß an Veränderungen, die sich künftig einstellen könnten.

Wer die Ausstellung besucht, wird mitgenommen auf eine Zeitreise durch die Vergangenheit und in die Zukunft. Der Aufstieg durchs Treppenhaus führt von der für ein Endlager vorgesehenen Tiefe hinauf durch die geologischen Schichten aus 250 Mio. Jahren, vorbei an den Spuren der Erdgeschichte in unserer Region.

In der anschließenden Galerie der Atomphysiker der ersten Stunde herrscht ein rascherer Zeittakt. Kaum 50 Jahre sollten vergehen, bis die Entdeckung der Radioaktivität am Ende des 19. Jahrhunderts in die erste Kernexplosion unter Robert J. Oppenheimer mündete. War Deutschland in den 1920er Jahren die Hochburg der Atomphysik, so zerbrach die internationale Forschergemeinschaft nach der Machtübertragung an Hitler und sammelte sich in den USA neu.
Aus Angst, das nationalsozialistische Deutschland könnte als erstes über eine Atombombe verfügen, starteten die USA auf Anraten des Pazifisten Albert Einstein zu Beginn des Zweiten Weltkriegs ihr Manhattan Project. Unter Oppenheimer entwickelte das gigantische Forschungsunternehmen die drei ersten Atombomben für den Test in New Mexiko und zum Abwurf über Hiroshima und Nagasaki. Das Ziel, den Krieg zu beenden, wurde damit erreicht. Aber ein faustischer Pakt war geschlossen, aus dem die Menschheit nicht mehr entrinnen kann.

Das Atom-Zeitalter hatte begonnen, dessen viele Gesichter in der Ausstellung unter anderem mit zahlreichen Fernsehdokumenten lebendig werden. Auf die Bomben folgte die friedliche Nutzung der Kernenergie. Zu sehen ist das Original-Pult, an welchem John F. Kennedy 1963 den ersten Vertrag für ein Kernwaffentestverbot in der Atmosphäre, im Weltraum und unter Wasser unterzeichnet hat. Ein Filmausschnitt zeigt die Euphorie der internationalen Atomausstellung in Genf 1955, als die Russen das erste Atomkraftwerk der Welt erläutern, und wo die Amerikaner den Versuchsreaktor von Oak Ridge inmitten des Besucherstroms vorführen.

Heute liefern die Schweizer Kernkraftwerke mehr als 40% der Energie, wogegen die Wasserkraft seit 1970 stagniert. Die Zunahme des Wohlstands in den letzten vier Jahrzehnten beruht auf Kernenergie.

Pierre Brauchli, Atomschutz Ja. Plakat für die Atomschutzinitiative 1979. Museum zu Allerheiligen. Brauchli schuf seine Collage vom Turmbau zu Babel und dem Kühlturm im Rahmen eines Wettbewerbs der Produzentengalerie in Zürich.

Inmitten des technologischen Aufbruchs gab es aber stets auch warnende Stimmen. Gegen das AKW Kaiseraugst regte sich so breiter Bürgerprotest, dass das Projekt schließlich abgebrochen werden musste. Eine Plakatwand lässt diese bewegte Zeit aufleben.
Mehrere große Störfälle haben eine breite Öffentlichkeit aufgeschreckt. Wer in der Ausstellung die ersten fünf Tage der Fukushima-Katastrophe Revue passieren lässt, erlebt von neuem, wie die Technik aus dem Ruder gelaufen ist. Darauf reagiert der Schweizer Bundesrat mit dem geplanten Atomausstieg.

Was noch zu tun bleibt, ist die sichere Entsorgung der atomaren Abfälle, auch aus der Medizin und Industrie. Der Sachplan dazu rechnet mit einer Realisierung innerhalb der nächsten 50 Jahre und der Übergabe der Verantwortung von den Betreibern an den Staat in weiteren hundert Jahren. Danach tritt das Projekt in die Beobachtungsphase.

Erfahrungshorizont der letzten 150 Jahre: Wer hätte angesichts der ersten Automobile geahnt, dass deren Verkehr dereinst die Landschaft, Dörfer und Städte verändert, wie keine Erfindung zuvor?

Die Ausstellung konfrontiert die 150 Jahre dieses Planungshorizonts mit einem Erfahrungshorizont ähnlicher Länge. Anhand von Leitobjekten und einer Kioskwand mit Zeitschriften der vergangenen 150 Jahre erleben wir die Geschichte seit der Gründung des Bundesstaats 1848 in ihrer Zuversicht und Unwägbarkeit, in ihren Leistungen und Schreckensereignissen.

Stiftergrab des Klosters zu Allerheiligen, Schaffhausen. Relief aus Sandstein, um 1100. Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen.

Im nächsten Raum fällt der Blick auf eine 1000-Jahr-Spanne: Die Einrichtung eines atomaren Endlagers ist hinsichtlich der Zielvorgabe am ehesten mit der Stiftung eines mittelalterlichen Klosters zu vergleichen. Die Mönche sollten, finanziert durch ein Stiftungskapital, bis zum Ende der Welt Gebetsleistungen für das Seelenheil des Klosterstifters erbringen. Mancherorts setzte die Reformation schon ab 1517 solcher Leistungsfrömmigkeit ein Ende. An einigen Orten hat sich der Brauch erhalten, doch mit der Französischen Revolution setzte die große Säkularisierungswelle ein. Auch das Kloster zu Allerheiligen in Schaffhausen ist ein solches Zeugnis gescheiterter Langzeitplanung. Heute steht das Grabmal des Klosterstifters im Museum.

Ein Endlager muss über sehr lange Zeiträume sicher sein. Die Epochen der Menschheit der jüngsten 15.000 Jahre illustriert eine Rotunde mit hochkarätigen Exponaten. Der Bogen führt von der Steinzeit, vorbei am ersten Rad und dem ersten Metall zur Eisenzeit. Der Blick fällt auf einen Mumiensarg aus der Hochkultur des Alten Ägypten, auf den Beginn der Geldwirtschaft mit den frühesten antiken Münzen. Ein Schritt ist es vom römischen Kaiser Augustus zu den frühen Zeugnissen der ersten Christen nördlich der Alpen, ein weiterer über das Mittelalter zu einer der ersten Weltkarten, die die Küste des neu entdeckten Amerikas verzeichnen. Kulturen entwickeln sich, Dynastien blühen und vergehen, Ideologien wandeln sich – eine Voraussetzung für jede Langzeitplanung liegt aber in der Beständigkeit der Institutionen.

Neandertaler im Zeittunnel von 1 Mio. Jahren. Modell von Marcel Nyffenegger. Museum zu Allerheiligen Schaffhausen.

Die Ausstellung mündet in einen 50 Meter langen Tunnel, eine Zeitmetapher für die Million Jahre Sicherheit, die für hochaktive atomare Abfälle gefordert ist. Dem Planungshorizont von einer Million Jahre steht der ebenso lange Erfahrungshorizont gegenüber. Rückwärts in der Zeit schreitend erkennen wir: Nach erst 75 cm ist der Rheinfall entstanden, nach 2,50 m begegnet uns der Neandertaler. Beim ersten Auftreten des Homo sapiens haben wir noch nicht einmal die Hälfte des Tunnels erreicht. Im wiederholten Wechsel von Eis- und Warmzeiten haben Gletscher und Meere das Land geformt und immer wieder umgestaltet.
Damit auch künftige Generationen ein Endlager nicht angraben, muss es gekennzeichnet sein. Das letzte Kabinett widmet sich der Atomsemiotik. Der Begriff wurde in den 1980er Jahren geprägt, als Forscher sich der Frage zuwandten, welche Zeichensysteme und Ausdrucksmittel überhaupt geeignet seien für die langfristige Überlieferung solcher Warnungen. Einige der z.T. bizarr anmutenden Vorschläge sind in der Ausstellung inszeniert.

Ägyptischer Sarkophag, um 960-900 v. Chr. Museum zu Allerheiligen, Schaffhausen.

Die Erfahrung aus der Geschichte lehrt, dass die Überlieferung von Dingen und von Wissen oft am seidenen Faden hängt. Das zeigen einige prominente Beispiele von ums Haar verlorenen Texten, darunter Ciceros für unser Staatsverständnis zentrale Schrift „De re publica“. Aber auch das noch nicht entzifferte Dokument in mesopotamischer Keilschrift oder die bis heute nicht entschlüsselte Knotenschrift der Inka machen deutlich, dass Information viel eher verloren geht als erhalten bleibt.

Die Internetseite des Museum zu Allerheiligen in Schaffhausen gibt alle nötigen Informationen zur Hand, falls Sie die Ausstellung besuchen wollen.